- Kino der Dreißigerjahre: Klassische Perfektion
- Kino der Dreißigerjahre: Klassische PerfektionMitte der Dreißigerjahre hatte sich die amerikanische Filmindustrie von den Folgen der ökonomischen Krise erholt und war produktiver als je zuvor: Das »goldene Zeitalter« des Studiosystems begann. Die Studios leisteten sich die besten Autoren, Regisseure, Kameraleute, Architekten, Musiker und Cutter, was zu einer durchweg hohen Qualität auch der Routineproduktionen führte. Die Majors entwickelten spezifische Charakteristika: Der Wahlspruch von Metro-Goldwyn-Mayer »More stars than there are in heaven« verhieß Opulenz und Glamour. Greta Garbo, Jean Harlow, die Marx Brothers und Clark Gable standen dort unter Vertrag.Die von Paramount produzierten Filme versprachen Eleganz und kontinentale Frivolität; sie spielten häufig in realen oder fiktiven europäischen Staaten. Viele der bei Paramount Beschäftigten waren - wie Ernst Lubitsch und Josef von Sternberg bereits in den Zwanzigerjahren - aus Europa eingewandert. Warner Bros. hingegen stellte vor allem zeitgenössische, sozialkritische Großstadtfilme her, die überwiegend in den schnelllebigen Gangster- oder Zeitungsmilieus angesiedelt waren. Daneben produzierte das Studio, bei dem Schauspieler wie James Cagney, Bette Davis, Paul Muni und Errol Flynn unter Vertrag standen, ab Mitte der Dreißigerjahre Mantel- und Degenfilme, Swashbucklers, sowie »Biopics« (»Biographic pictures«), die auf den Lebensgeschichten historischer Persönlichkeiten beruhten. 1939 war Warner Brothers das erste Studio, das mit »Ich war ein Spion der Nazis« einen antinationalsozialistischen Propagandafilm produzierte.Auch die anderen Studios hatten sich auf bestimmte Stoffe und Genres spezialisiert. Allerdings war es mit der Freizügigkeit und Respektlosigkeit des Kinos der ersten Tonfilmjahre bald vorbei: Ab Juli 1934 wurde der bereits seit 1930 existierende, aber bis dahin wenig beachtete »Motion Picture Production Code« rigide angewandt. Dieses Instrumentarium zur freiwilligen Selbstkontrolle der Filmindustrie war auf Druck verschiedener, besonders katholischer Interessengruppen entstanden und forderte die Darstellung vorbildlicher Lebensführung nach christlichen Moralvorstellungen auf der Leinwand; Scheidung, Ehebruch, Sex und jede Form von modernem, großstädtischem Leben sollten nicht mehr vorkommen. Die Stars, die vorher Gangster verkörpert hatten, spielten nun Cops und FBI-Agenten, und lockerer Lebenswandel auf der Leinwand wurde spätestens am Ende des Films bestraft.Mit der Einführung des Tons waren Animationsfilme populär geworden. Walt Disney perfektionierte deren Produktion in den Dreißigerjahren, führte in seinem Studio die Arbeitsteilung ein und produzierte am Fließband Filme mit den von ihm geschaffenen Helden Mickey Mouse, Donald Duck, Pluto und Goofy. Neben kürzeren kamen bald abendfüllende Spielfilme wie »Bambi« oder »Schneewittchen und die 7 Zwerge« in die Kinos. Disneys ambitioniertestes Werk, »Fantasia«, interpretierte klassische Musik mit den Mitteln der Animation. Ebenso wie mit animierten Bildern hatte man seit den Anfängen des Mediums mit Farbverfahren experimentiert. In den späten Dreißigerjahren kam mit dem dreifarbigen »Technicolor«-Prozess ein Verfahren auf den Markt, das zuverlässiger als seine Vorgänger war. Einer der ersten großen Technicolor-Filme war 1939 »Vom Winde verweht«. Zur selben Zeit wurden in der Sowjetunion und in Deutschland Spielfilme nach dieser neuen Methode gedreht.Eine große Anzahl europäischer Emigranten aus allen Sparten der Filmproduktion fand in Hollywood Beschäftigung, und die amerikanische Filmindustrie profitierte in den Dreißiger- und Vierzigerjahren in hohem Maße von dem kreativen Potenzial der vor dem Nationalsozialismus geflohenen Künstler. In Deutschland hatte der Machtantritt der Nationalsozialisten der Leichtigkeit, dem Witz und Schwung der ersten Tonfilmjahre ein jähes Ende gesetzt. Bereits am 29. März 1933 hatte der Vorstand der Ufa den Beschluss gefasst, »Verträge mit jüdischen Mitarbeitern nach Möglichkeit zu lösen«, und damit viele Filmschaffende zur Emigration gezwungen. Zunächst emigrierten die meisten in europäische Nachbarstaaten; nach deren Okkupation durch die Nationalsozialisten war Hollywood der bevorzugte Fluchtpunkt. Die Verfolgung der Juden bewirkte einen Exodus qualifizierter Fachleute, von dem sich das deutsche Kino nie wieder erholte.Bereits 1933 produzierte die wenig später de facto verstaatlichte Filmindustrie eine Reihe von Propagandafilmen mit programmatischen Titeln wie »SA-Mann Brandt« oder »Hitlerjunge Quex«. Danach verzichtete man bis zum Kriegsanfang weitgehend auf rein propagandistische Stoffe und drehte stattdessen Komödien, Melodramen, Revue- und Abenteuerfilme, die einen gewissen Grad von Nonkonformität ermöglichten. Hitler selbst gab der Regisseurin Leni Riefenstahl den Auftrag, Dokumentarfilme über den Reichsparteitag von 1934 in Nürnberg und über die Olympiade von 1936 in Berlin zu drehen. Formal anspruchsvoll setzte Leni Riefenstahl die ästhetischen Ideale der Machthaber ins Bild. Sie und ihr Werk bleiben deshalb umstritten.Seit dem Ersten Weltkrieg beherrschten ausländische, vor allem amerikanische Importe den britischen Markt. Um die nationale Filmindustrie zu stärken, wurden 1927 Verleiher und Kinobesitzer gesetzlich verpflichtet, einen bestimmten Anteil einheimischer Produktionen ins Programm zu nehmen; bis Mitte der Dreißigerjahre stieg ihr Anteil auf 20 Prozent. Gleichzeitig betrieb die Industrie die Internationalisierung britischer Filme, um deren Exportchancen zu erhöhen. Ausländische Fachleute aus sämtlichen Produktionsbereichen waren in der britischen Filmwirtschaft beschäftigt, die am Ende der Stummfilmzeit einen ersten, Mitte der Dreißigerjahre einen zweiten Boom erlebte. Wichtige Produktionsfirmen waren die Gaumont British, die ABPC () und die London Films des gebürtigen Ungarn Alexander Korda. Dessen 1933 von ihm selbst inszenierter, in Kooperation mit zahlreichen internationalen Mitarbeitern entstandener Film »Das Privatleben Heinrichs VIII.« war der erste einer ganzen Reihe auch im Ausland erfolgreicher, respektlos-historischer Spielfilme, die Korda produzierte.Der erste britische Tonfilm war 1929 »Erpressung« gewesen; sein Regisseur Alfred Hitchcock hatte bereits im Stummfilm gearbeitet und war gerade dabei, sich als »Master of suspense« - als Meister der Spannung - zu profilieren: Der zu Unrecht als Verbrecher verdächtigte Normalbürger und plötzlicher Identitätsverlust waren seine Themen, denen er sich auch in den nächsten Jahrzehnten immer wieder widmen sollte. Die Subjektivierung der Kamera und die visuelle Hervorhebung von Gegenständen mit symbolischer Bedeutung kennzeichneten schon in den ersten Filmen seinen inszenatorischen Stil. Ende der Dreißigerjahre brach die überschuldete britische Filmindustrie zusammen, und Hitchcock ging, wie viele seiner Kollegen, in die USA.Die Dreißigerjahre boten auch dem britischen Dokumentarfilm besonders günstige Produktionsbedingungen. Der Schotte John Grierson scharte junge Regisseure - Robert Flaherty, Alberto Cavalcanti, Paul Rotha, Basil Wright - um sich, die für staatliche Institutionen den Berufsalltag von Arbeitern dokumentierten. Im Auftrag des General Post Office beschäftigten sich die Dokumentaristen mit Arbeitsabläufen bei den verschiedenen Formen der Nachrichtenübermittlung. In ihnen spielte der Ton eine zentrale Rolle: Mit Geräuschen, die etwa beim Telefonieren und Telegrafieren entstehen, stellten sie Zusammenhänge zwischen den Bildern her; mitunter wurden literarische Kommentare und Musik eingesetzt, so in »Night Mail« (1936) von Basil Wright und Harry Watt, einer Reportage über den Posttransport von London nach Edinburgh. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Gruppe dem Ministry of Information unterstellt und drehte Propagandafilme.Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Kino und dem Kino der »Telefoni bianchi« (= weiße Telefone) im faschistischen Italien, das großbürgerliche Milieus, stilisierte Dekors, einen theatralischen Darstellungs- und Inszenierungsstil und werkgetreue Literaturverfilmungen favorisierte, aber auch im Kontrast zum Glamour der amerikanischen Studioproduktionen stand das französische Kino der Dreißigerjahre, dessen wichtigste Strömung der »poetische Realismus« war. Er widmet sich dem Alltag der kleinen Leute, erzählt von der Vergeblichkeit der Liebe, der Konfrontation individueller Glücksvorstellungen mit gesellschaftlichen Normen, von sozialen Außenseitern und ihrem Scheitern an den Konventionen. Die Protagonisten des poetischen Realismus - die Regisseure Marcel Carné, Jean Renoir, Jean Vigo, René Clair und der Drehbuchautor Jacques Prévert - sympathisieren mit den Benachteiligten, aber ihre Filme enden häufig pessimistisch. Ihnen allen gemeinsam ist die genaue Beobachtung der sozialen Realität und eine dazu nicht im Widerspruch stehende poetische Visualisierung der Stoffe. Populärster Schauspieler des poetischen Realismus war Jean Gabin, dessen wortkarge Arbeiter, Soldaten und kleine Gauner mit rauer Schale und weichem Kern die Helden dieser Dekade repräsentieren. Voller Sympathie für das Milieu der kleinen Leute, der Gauner und Taschendiebe ist vor allem René Clairs Film »Unter den Dächern von Paris« (1930), der auch ein frühes Beispiel für den virtuosen Umgang mit dem Ton darstellt: In das titelgebende Lied des Straßensängers stimmen nicht nur Passanten, sondern auch die Bewohner eines Mietshauses ein. Gleich einem musikalischen Staffellauf wandert der Refrain und mit ihm die Tonfilmkamera durch die verschiedenen Zimmer und Etagen.In der Sowjetunion begann in den Dreißigerjahren die Zeit des sozialistischen Realismus. Die sowjetische Filmproduktion wurde um 1930 verstaatlicht; den ästhetischen Experimenten und der künstlerischen Freiheit der ersten Dekade nach der Oktoberrevolution wurde ein Ende gesetzt. 1928 wurde Eisensteins »Oktober« von der Parteispitze des Formalismus beschuldigt, den jungen Regisseuren der postrevolutionären Ära »bürgerliche Einflüsse« vorgeworfen. Als Stalins Machtposition sich festigte, verpflichtete er alle Filmkollektive dazu, 30 Prozent ihrer Budgets auf die Produktion von Dokumentarfilmen über die Ziele des ersten Fünfjahresplans zu verwenden.Dem geforderten Realismus kam die Einführung des Tonfilms entgegen, der sich in der Sowjetunion 1931 endgültig durchsetzte. Regisseure wie Sergej Jutkewitsch sowie Sergej und Georgij Wassiljew prägten das Gesicht des sozialistischen Realismus, dessen Held der Proletarier im Kampf mit den Problemen der neuen Gesellschaft war. Der avantgardistische Formenkanon, der sich zu Beginn der Dreißigerjahre auch in den Filmen dieser Regisseure fand, wich später einem staatlich normierten. Die Protagonisten der Avantgarde gerieten zunehmend unter den Druck der Zensur. So wurde 1937 Sergej Eisensteins »Die Beshin-Wiese«, die Geschichte eines Jungen Pioniers, der von seinem Vater erschlagen wird, weil er ihn denunziert hatte, einer offiziellen Kritik unterzogen und später vernichtet: Man kritisierte die latente christlich-mythologische Botschaft. Der Regisseur wurde gezwungen, seine »Fehler« einzugestehen und den Film zu verwerfen.Anti-Nazi-Filme aus den Jahren 1938/39 wurden zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes aus dem sowjetischen Verleih genommen. 1941, als die Deutschen in die Sowjetunion einmarschierten, entstand eine große Anzahl von Dokumentarfilmen - Kompilationen, die das an der Front gedrehte Material präsentierten. Gleichzeitig ging die Produktion von Spielfilmen zurück, da Personal knapp wurde. Nach dem Krieg versank die sowjetische Filmproduktion qualitativ und quantitativ in der Bedeutungslosigkeit, was sich erst mit Stalins Tod 1953 wieder änderte.Dr. Daniela Sannwald und Robert MüllerFilmklassiker. Beschreibungen und Kommentare, herausgegeben von Thomas Koebner. 4 Bände. Sonderausgabe Stuttgart 21998.Geschichte des internationalen Films, herausgegeben von Geoffrey Nowell-Smith. Aus dem Englischen. Stuttgart u. a. 1998.Kreimeier, Klaus: Die Ufa-Story. Geschichte eines Filmkonzerns. Taschenbuchausgabe München 1995.Lexikon des internationalen Films. Das komplette Angebot in Kino, Fernsehen und auf Video, begründet von Klaus Brüne. Bearbeitet von Horst Peter Koll. 10 Bände. Neuausgabe Reinbek 1995.Reisz, Karel und Millar, Gavin: Geschichte und Technik der Filmmontage. Aus dem Englischen. München1988.Sachlexikon Film, herausgegeben von Rainer Rother. Reinbek 1997.
Universal-Lexikon. 2012.